Revolution, Restauration, Amnesie. Über das Gedächtnis in der postkommunistischen Zeit
Revolution, Restauration, Amnesia. On Memory in the post-communist Era
Author(s): Marcin KrólSubject(s): History
Published by: Institut für die Wissenschaften vom Menschen
Keywords: Revolution ; Restauration ; Amnesie; postkommunistischen Zeit ; posttotalitären System ; Demokratie ; Revolution; Restauration; Amnesia ; Memory ; post-communist ;
Summary/Abstract: Wenn wir über das Gedächtnis in der Übergangszeit vom posttotalitären System zur Demokratie sprechen, dann wissen wir im Grunde nicht besonders gut, worüber wir reden. Es geht mir hier nicht um theoretische Reflexionen. Die Untersuchung der individuellen und gesellschaftlichen Mechanismen des Gedächtnisses und des Vergessens kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Auch im zwanzigsten Jahrhundert haben sich, bei Marcel Proust und Maurice Halbwachs angefangen, viele damit beschäftigt. Das Gedächtnis lässt sich aber noch aus einer anderen Perspektive untersuchen; man könnte sich auf die Frage beschränken, wer was mit dem Gedächtnis macht, mit anderen Worten, wie das Gedächtnis manipuliert wird. Den Begriff »manipulieren« verwende ich hier übrigens in einem neutralen Sinn; in Polen löst er aus verständlichen, wenn auch nicht mehr aktuellen Gründen, negative Assoziationen aus. Betrachtet man das Phänomen des Gedächtnisses aus dieser Perspektive, kann man drei Grundauffassungen unterscheiden, die in Polen seit der Machtübernahme durch die Kommunisten im Jahre 1944 bis auf den heutigen Tag verbreitet sind. Diese Auffassungen entwickelten sich in einer deutlichen chronologischen Reihenfolge. Gleichzeitig scheint diese Entwicklung einer gewissen Dialektik zu unterliegen, so dass man von der kommunistischen Idee des Bruchs mit der Kontinuität, von der oppositionellen These der Kontinuität »trotz allem« und-schließlich von der demokratischen Praxis der Normalisierung jenseits der Kontinuität sprechen kann. Dabei handelt es sich natürlich um vereinfachende Unterscheidungen, die mir aber für den Anfang ganz nützlich erscheinen. Sowohl das menschliche Individuum als auch gesellschaftliche Gruppierungen basieren gleichermaßen auf dem Funktionieren des Gedächtnisses. Selbst wenn das Gedächtnis, seinem Wesen nach, selektiv und zugleich Gegenstand der Manipulation ist, so bedarf es doch der Kontinuität, um dem menschlichen Individuum eine be-wusste Existenz zu ermöglichen. Ebenso ist das Gedächtnis unverzichtbar, um politischen und sozialen Strukturen Identität und Dauer zu verleihen. Wie der Bruch der Kontinuität beim Individuum psychische Deformationen zur Folge hat, so führt er auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene zu einem Chaos der Werte und zur manischen Suche nach Surrogaten für die Rückgratfunktion des Gedächtnisses.
Journal: Transit
- Issue Year: 1991
- Issue No: 02
- Page Range: 027-035
- Page Count: 9
- Language: German